Ich hätte mit so vielem in diesem Jahr noch gerechnet. Doch dass ein Virus sich zu so einer Katastrophe entwickelt und nun der Grund ist, warum mein Freiwilligendienst hier in Indien beendet werden muss, hätte ich mir nicht erdenken können.
Am Montag haben uns die Jungs aus Nordindien angerufen und meinten plötzlich, dass sie einen Rückflug nach Deutschland gebucht hätten und am Donnerstag das Land verlassen würden. Zudem sprachen sie davon, dass es bei uns demnächst auch noch so weit kommen könnte. Wir drei haben die beiden zu dem Zeitpunkt für verrückt gehalten, haben ihre Entscheidung für viel zu übertrieben empfunden. Denn bei uns in Tamil Nadu sah die Welt noch völlig idyllisch aus. Die einzige Maßnahme war, dass die Kindergärten und Grundschulen geschlossen wurden. Ansonsten hatte der Virus hier für uns noch gar keinen Einfluss. Ganz im Gegenteil Indien sah zu dem Zeitpunkt noch so viel besser aus als Deutschland.
Kaum eine Stunde später hat Regina – unsere Chefin – mich angerufen und uns dreien die Lage geschildert. Sie war sich zu dem Zeitpunkt noch nicht sicher, ob wir das Land verlassen müssen, meinte jedoch, wir sollten zur Sicherheit schon einmal unsere Sachen zusammen suchen und uns für eine Ausreise bereit machen.
Wir hatten kaum Zeit, diese Nachricht zu verdauen, da kam auch schon die Mail von weltwärts, in der beschlossen wurde, dass alle Freiwilligen so schnell wie möglich nach Deutschland kommen müssen.
Auch wenn es in den meisten Ländern, in denen wir uns derzeitig befinden noch besser aussieht als in Deutschland, kommen wir nicht an der Rückreise vorbei. Grund dafür ist die Angst, dass wir in unserem Land festsitzen könnten. Denn den Entwicklungen zufolge werden alle internationalen Flüge und wahrscheinlich auch die eisten nationalen Flüge eingestellt. Sollten wir also dann nicht mehr aus unserem Land rauskommen und hier der Virus genauso ausbrechen, haben wir ein Problem. Schließlich ist hier die gesundheitliche Versorgung nicht so gegeben, wie wir sie in Deutschland erfahren würden. Wenn dann auch noch unser Visum ablaufen würde, würden wir hier im Sommer immer noch sitzen, hätten wir noch weitere Schwierigkeiten.
Es gibt auch Freiwillige von unserer Organisation, die in ihren Ländern festsitzen und im Moment noch auf ein zufälliges Flugangebot oder auf einem von der Botschaft organisierten Flug warten. Bei uns in Indien haben sich auch schon die meisten Freiwilligen aus dem Staub gemacht. Leider lag ich den Anfang der Woche noch mit Fieber im Bett und bin bis gestern noch ziemlich am Husten und verschnupft gewesen (Klimaanlage war schon wieder Schuld), sodass wir frühestens für Sonntag eine Ausreise planen konnten. Bis zum jetzigen Stand wurde unser Flug noch nicht gecancelt, doch immer mehr Flüge –selbst Inlandsflüge- werden gestrichen und die Strecken werden zu richtigen Abenteuerreisen. Lukas‘ Familie zum Beispiel ist von Delhi über Dubai und Moskau nach England geflogen und von dort aus mit dem Zug nach Deutschland. Insgesamt haben sie vier Tage gebraucht, um ins Heimatland zurück zu kehren. Ich bete, dass wir uns diesen Stress sparen können. Wir prüfen auch mehrmals täglich, ob unser Flug noch geht. Witziger Weise fliegen wir mit drei Freiwilligen, die wir auf unserem Seminar in Kochi kennengelernt haben.
Für uns ist die Nachricht selbstverständlich ein großer Schock. Schließlich wurden wir innerhalb weniger Stunden aus unserem Alltag gerissen. Das Leben hier in Indien war so kostbar für mich und wurde mir mit einem Schlag genommen. Ich konnte mich noch nicht einmal von meinen kleinen Babys in der Schule verabschieden, da diese ja geschlossen wurden. Wir hatten gerade unsere Urlaubsplanung begonnen und so viele schöne Reiseziele rausgesucht und wollten uns mit ein paar Leuten in Goa treffen. Ich wollte noch so vieles ausprobieren. Ich habe weder für die Menschen hier ein Abschiedsgeschenk, noch für alle Leute in Deutschland ein Mitbringsel (was natürlich eher zweitrangig ist, mich trotzdem beschäftigt). So oft habe ich gesagt: „Ach, das kann ich später machen.“ Jetzt bleibt für vieles keine Zeit mehr. Die letzten Tage hier in Indien wollten wir eigentlich genießen, doch ich schwimme praktisch im Stress. Wir springen von einer Abschiedsparty zur nächsten, versuchen krampfhaft unsere To-Do-Listen abzuarbeiten und müssen gleichzeitig unser halbes Jahr in unsere Koffer packen. Seit Montag habe ich nicht mehr ausgiebig geschlafen und mir hängen die Augenringe schon bis auf den Boden.
Ich bin dankbar für die vielen Erlebnisse, die wir in so kurzer Zeit machen durften, da hatten wir unglaublich Glück. Ich freue mich auf meine Lieben in Deutschland und kann verstehen, dass ihr mich lieber daheim hättet. Doch im Moment kann ich das noch nicht so wirklich zeigen, denn die Trauer um das, was mir genommen wird, ist viel zu aktuell und überlagert manchmal noch die positiven Dinge. Ich hoffe, ihr könnt das verstehen.
Lange habe ich überlegt, wann ich diesen Beitrag poste und wann ich den Menschen von meiner Rückkehr erzähle. Denn ich möchte nicht, dass mir jetzt jeder schreibt. Auch wenn es nur lieb gemeint ist, nimmt mir das die Zeit hier, wenn ich euch darauf antworten muss. Es geht mir gut, ihr müsst euch keine Sorgen machen, ich hab euch alles, was es zu sagen gibt, gesagt und für den Moment muss das reichen.
Ich weiß auch noch nicht, was ich mit all den Posts, die ich schon angefangen habe, aber noch nicht veröffentlicht habe, mache. Wahrscheinlich werde ich sie trotzdem posten, auch wenn es überhaupt nicht in die Reihenfolge passt. Aber mal gucken.
Das war’s dann jetzt auch. Ich muss packen und danach zu meiner letzten Abschiedsparty. Gestern kam in den Nachrichten auch die Nachricht, man solle nur noch für wichtige Angelegenheiten das Haus verlassen, ich warte eigentlich nur noch auf die Ausgangssperre im Laufe des Tages.
P.S. Ich habe noch nicht einmal Zeit, den Text Korrektur zu lesen…obwohl ich das generell selten mache, aber dann eher aus anderen Gründen (Lachsmiley)
