Völlig unerwartet überfiel mich die Nachricht, nach
Deutschland zurückkehren zu müssen. So gut ich in den Seminaren vor jeglichen
Ausnahmesituationen gewarnt wurde, mit einem unerwünschten Abbruch hatte wohl
niemand gerechnet. Vielleicht ist es diese Plötzlichkeit, die mir am meisten zu
Kopfe stieg. Ich hatte gar keine Möglichkeit, mich emotional darauf
vorzubereiten. Zack bum. Ist er da. Zack bum. Zieht es mir auch schon den Boden
unter den Füßen weg.
Ein Leben, was ich mir innerhalb von sieben Monaten mit all
den Höhen und Tiefen aufgebaut habe, wurde mir im Laufe weniger Stunden
genommen. Gerade zu diesem Zeitpunkt fühlte ich mich auf meiner Stelle am
wohlsten. Schließlich hatte ich mich an die meisten Eckpunkte angepasst, habe
Beziehungen aufgebaut und Pläne für die Zukunft geschmiedet. Der Abschied war immer
im Hinterkopf präsent. Dazwischen aber lag noch so viel, dass ich mich nie
intensiv damit auseinander gesetzt habe. Doch sicher ist, ich hätte ihn mir
anders vorgestellt. Ich hätte mich gerne von meinen kleinen Lieblingen in der
Schule verabschiedet. Was mir sonst immer als eine selbstverständliche Geste
erschien, war aufgrund des Lockdowns nicht mehr möglich.
Am Anfang bin ich morgens aufgewacht und habe mich sofort
nach dem Leben in Indien gesehnt. All die Erinnerungen haben mich durch meinen
Alltag begleitet und nachts habe ich sie mit ins Bett genommen. Ich weiß gar
nicht, was ich am meisten vermisst habe.
Vielleicht waren es die Kinder und ihre bedingungslose Liebe, dass ich
nie das Gefühl hatte, in Indien bestimmte Erwartungen zu erfüllen, meine Selbstständigkeit,
beinahe jeden Tag etwas Neues zu erleben oder dazuzulernen, das Wetter, meine
Bekanntschaften, die in der Zeit zu Freunden und Familie wurden. Es gab so viel,
was dem Leben in Indien eine tiefere Bedeutung gegeben hat. Mit am schlimmsten
ist das Bewusstsein, dass es, selbst wenn ich irgendwann wieder zurückkehren
kann, niemals wieder so sein wird, wie es war. Ich werde nie wieder den
gleichen Kontakt zu den gleichen Kindern aufbauen können.
So bin ich also in Deutschland erst einmal in ein ziemlich
tiefes Loch gefallen, aus dem ich mich nicht freiwillig wieder rausbewegen
wollte. Ich war so blind vor Traurigkeit, dass ich noch nicht einmal mehr
mitbekommen habe, wie sehr sich viele in meinem Umfeld um mich gekümmert haben
und wie oft ich sie von mir gestoßen habe. Doch ich hatte nie das Gefühl,
verstanden zu werden. Wie denn auch? Ich war tottraurig, zurück in Deutschland
zu sein, während die anderen heilfroh waren, dass ich wieder da war. Und die
anderen waren enttäuscht, weil ich mich nicht so sehr gefreut habe, sie
wiederzusehen, wie sie sich über meine Anwesenheit gefreut haben. Mir ist auf
einmal aufgefallen, wie schnell in Deutschland gelebt wird. Selbst mit den
Ausgangsbeschränkungen hatten die anderen am Tag so viel zu erledigen und am
besten ganz schnell, damit bestenfalls noch weitere Aufgaben erledigt werden
konnten. Das passte überhaupt nicht zu meiner Einstellung, alles mit ganz viel
Gelassenheit anzugehen und kein schlechtes Gewissen zu haben, wenn ich Aufgaben
auf den nächsten Tag verschiebe. Ich kam nicht hinterher, wenn andere mir
Aufgaben setzten und von mir erwarteten, diese auch im nächsten Moment zu
erledigen. Probleme, die ich in Deutschland zurück gelassen habe, waren
plötzlich wieder da. Für mich war es die richtige Entscheidung, erst einmal ins
Kloster zu gehen, um in meinem eigenen Tempo wieder zurück nach Deutschland
zurück zu kehren.
Zudem kamen meine ständigen Magenschmerzen und dass mir
damit auch niemand helfen konnte. Ich wurde immer kränker, konnte immer weniger
essen. Die Schmerzen waren teilweise so stark, dass ich den ganzen Tag im Bett
lag. Ich hatte Angst vorm Essen, weil es mir solche Schmerzen bereitet hat,
dass ich es irgendwann zu einem großen Teil eingestellt habe. Nach einer Woche
und mit einem Stuhlgang wie Wasser wurde ich dann als Notfall bei einer
Heilpraktikerin untersucht und diese konnte mir zumindest schon ein Stück weit
helfen. Aber der Weg zur Besserung sollte ziemlich lang werden. Wochenlang habe
ich mich anfangs komplett strickt an einen strengen Ernährungsplan, der
eigentlich nur aus Haferbrei und gedünsteten Gemüse bestand, gehalten. Dreimal
täglich musste ich Medikamente nehmen, um das Essen wenigstens im Ansatz drin
zu behalten. Alle zwei Wochen habe ich über einen Tropf künstlich die
Nährstoffe erhalten, die mir fehlten. Ich hab an Gewicht verloren und wurde von
anderen ständig darauf aufmerksam gemacht. Als ob ich nicht selbst sehen
könnte, wie ich aussehe. Also habe ich angefangen, mich hinter ausgebeulten
Hosen und weiten Oberteilen zu verstecken, wenn ich übers Wochenende Zuhause
war oder mich Freunde besuchten. Mittlerweile habe ich fast mein ursprüngliches
Gewicht erreicht, aber irgendwie ist mein Körpergefühl noch nicht wieder ganz
zurückgekehrt. Ich hab in der Öffentlichkeit schon noch Angst, dass man mir
ansieht, dass ich krank bin. Ich will nicht ständig von anderen hören müssen,
ich müsste mehr essen. Denn das will ich ja, aber es geht nicht so einfach. Nur
besitzen viele diese Sensibilität nicht und denken sich nichts Böses bei ihren
Kommentaren. Dass es mich verletzt, so etwas zu hören, können sie sich nicht
vorstellen. Sie meinen es ja nur gut.
Irgendwann kam dann die Akzeptanz und ich habe meinen
Optimismus wiedergefunden. Im gleichen Atemzug habe ich den Text „moving on“
verfasst, der mir in so manch schwierigen Momenten gut weitergeholfen hat. Ich
habe verstanden, dass es okay ist, mich so traurig und orientierungslos zu
fühlen. Auch die negativen Emotionen wollten gefühlt werden, also habe ich sie
zugelassen. Genauso wichtig ist es dann jedoch auch, irgendwann die Kurve zu
kriegen und weiter zu machen. Es ist keine Schwäche, zusammen zu brechen. Im
Gegenteil. Danach wieder aufzustehen und neuen Mut zu fassen, ist wahrhaft die
größte Stärke, die in uns verborgen liegt. Es bringt mir nichts, in der
Vergangenheit weiter zu leben. Dadurch entsteht ein Stillstand, es kommt zu
keiner weiteren Entwicklung und eben auch zu keiner Besserung. Stattdessen wollte
ich offen für neue Chancen und glücklichen Zufälle sein, die sich ergeben
können, wenn man es am wenigsten erwartet.
Meine Freundin würde jetzt sagen: „Erinnerung sind eine
Bereicherung. Sie zeigen uns, wie schön das Leben sein kann, wenn es das nicht
ist. Helfen uns im stetigen Wandel der Zeit nicht verloren zu gehen, indem sie
uns zeigen, wer wir waren, wer wir sein wollen und werden können. Doch ich
merke auch, dass Erinnerungen, die ich zu stark festgehalten habe, mich
ausgebremst haben. Erst als ich mich von ihnen entfernt habe, konnte ich etwas
Neues beginnen. Vieles davon braucht Zeit, Mut und Kraft. Ganz los wird man
manche Dinge wohl nie, denn sie sind längst ein Teil von uns, den wir früher
oder später akzeptieren müssen. Ja Zeit vergeht, sie nimmt und sie schenkt.
Immer weiter…“
Wenn ich ehrlich bin, dann geht es mir nicht zu hundert
Prozent wieder gut. Aber ich bin stolz auf meinen Fortschritt und mittlerweile
überwiegen die Momente im Glück die schlechten Gedanken. Es kann nur besser werden
und ich bin den Menschen, die mir auf meinem Weg zur Seite stehen so unendlich
dankbar. Vor allem dem Bistum bin ich jetzt so dankbar, dass mir ein Stipendium
ermöglicht wird. Denn so muss ich mir jetzt keine Sorgen darum machen, dass ich
immer noch nicht wieder arbeiten und schon einmal Geld für die Finanzierung meines
Studiums verdienen kann. So kann ich die viele freie Zeit dafür nutzen, wieder
gesund zu werden. Danke, dass ihr mir diese Reise ermöglicht habt. Und vor
allem danke, dass ich meinen Weg nie ganz alleine gehen musste.