Würdest du?

Als ich in meinem Religions(hochleistungs)kurs das Thema Organspende hatte, hätte ich niemals gedacht, dass mich dieses Thema so früh in meinem Leben noch einmal persönlich betreffen würde.

Schon damals war ich geschockt, als bei der Frage: ,,Würdest du einer Person, die dir sehr nahe steht deine Niere spenden?“, so viele so schnell mit „Ja“ geantwortet haben.

Vielleicht liegt es an mir, dass ich mir Dinge immer mindestens einmal mehr als andere durch den Kopf gehen lasse. Vielleicht haben die anderen den Ernst dieser Frage nicht wahrgenommen.

Also würdest du?

Würde ich meine Niere einer Person, die mir unglaublich nahe steht, spenden?

Ich meine, ich bin gerade einmal zwanzig Jahre alt. Eigentlich will ich nicht mehr als die Verantwortung über mein eigenes Leben auf mich nehmen. Und plötzlich habe ich die Möglichkeit, den Gesundheitszustand einer anderen Person zu verändern oder eben auch nicht.

Würdest du?

Ich weiß nicht, inwieweit mein Leben dadurch eingeschränkt werden würde. Aber ich kann mir nicht vorstellen, dass mein Leben mit nur einer Niere noch genauso wäre als mit dem von der Natur so gegebenen Doppelpack. Ist es mir wert, zu riskieren, mein eigenes Leben einschränken zu lassen? Mit gerade einmal zwanzig Jahren und so vielen Träumen und Plänen? Und wer weiß denn schon, ob alles so funktioniert, wie es soll?

Würdest du?

Könnte ich „Nein“ sagen? Also das Recht steht mir zumindest zu. Aber andere haben vielleicht nicht die gleiche Meinung zu dem Thema und könnten meine Position nicht nachvollziehen. Für sie würde ich wie der Antiheld dastehen. Ein Egoist. Ich könnte ja helfen, will es aber nicht. Könnte ich mit einer negativen Bewertung meiner Entscheidung umgehen?

Ist eine Organspende ein Liebesbeweis? Heißt es, wenn ich dir jetzt nicht meine Niere gebe, dann habe ich dich nicht so lieb wie jemand, der es tun würde.

Würdest du?

Könnte ich das dieser Person auch sagen und in ihr enttäuschtes Gesicht sehen?  Dann müsste ich ja riskieren, dass sie mein Entscheidung nicht verstehen kann. Wäre ich mir dann trotzdem noch so sicher?

Was würdest du machen?

Nein!! Was würde ich machen?

Dritter Quartalsbericht

Völlig unerwartet überfiel mich die Nachricht, nach Deutschland zurückkehren zu müssen. So gut ich in den Seminaren vor jeglichen Ausnahmesituationen gewarnt wurde, mit einem unerwünschten Abbruch hatte wohl niemand gerechnet. Vielleicht ist es diese Plötzlichkeit, die mir am meisten zu Kopfe stieg. Ich hatte gar keine Möglichkeit, mich emotional darauf vorzubereiten. Zack bum. Ist er da. Zack bum. Zieht es mir auch schon den Boden unter den Füßen weg.

Ein Leben, was ich mir innerhalb von sieben Monaten mit all den Höhen und Tiefen aufgebaut habe, wurde mir im Laufe weniger Stunden genommen. Gerade zu diesem Zeitpunkt fühlte ich mich auf meiner Stelle am wohlsten. Schließlich hatte ich mich an die meisten Eckpunkte angepasst, habe Beziehungen aufgebaut und Pläne für die Zukunft geschmiedet. Der Abschied war immer im Hinterkopf präsent. Dazwischen aber lag noch so viel, dass ich mich nie intensiv damit auseinander gesetzt habe. Doch sicher ist, ich hätte ihn mir anders vorgestellt. Ich hätte mich gerne von meinen kleinen Lieblingen in der Schule verabschiedet. Was mir sonst immer als eine selbstverständliche Geste erschien, war aufgrund des Lockdowns nicht mehr möglich.

Am Anfang bin ich morgens aufgewacht und habe mich sofort nach dem Leben in Indien gesehnt. All die Erinnerungen haben mich durch meinen Alltag begleitet und nachts habe ich sie mit ins Bett genommen. Ich weiß gar nicht, was ich am meisten vermisst habe.  Vielleicht waren es die Kinder und ihre bedingungslose Liebe, dass ich nie das Gefühl hatte, in Indien bestimmte Erwartungen zu erfüllen, meine Selbstständigkeit, beinahe jeden Tag etwas Neues zu erleben oder dazuzulernen, das Wetter, meine Bekanntschaften, die in der Zeit zu Freunden und Familie wurden. Es gab so viel, was dem Leben in Indien eine tiefere Bedeutung gegeben hat. Mit am schlimmsten ist das Bewusstsein, dass es, selbst wenn ich irgendwann wieder zurückkehren kann, niemals wieder so sein wird, wie es war. Ich werde nie wieder den gleichen Kontakt zu den gleichen Kindern aufbauen können.

So bin ich also in Deutschland erst einmal in ein ziemlich tiefes Loch gefallen, aus dem ich mich nicht freiwillig wieder rausbewegen wollte. Ich war so blind vor Traurigkeit, dass ich noch nicht einmal mehr mitbekommen habe, wie sehr sich viele in meinem Umfeld um mich gekümmert haben und wie oft ich sie von mir gestoßen habe. Doch ich hatte nie das Gefühl, verstanden zu werden. Wie denn auch? Ich war tottraurig, zurück in Deutschland zu sein, während die anderen heilfroh waren, dass ich wieder da war. Und die anderen waren enttäuscht, weil ich mich nicht so sehr gefreut habe, sie wiederzusehen, wie sie sich über meine Anwesenheit gefreut haben. Mir ist auf einmal aufgefallen, wie schnell in Deutschland gelebt wird. Selbst mit den Ausgangsbeschränkungen hatten die anderen am Tag so viel zu erledigen und am besten ganz schnell, damit bestenfalls noch weitere Aufgaben erledigt werden konnten. Das passte überhaupt nicht zu meiner Einstellung, alles mit ganz viel Gelassenheit anzugehen und kein schlechtes Gewissen zu haben, wenn ich Aufgaben auf den nächsten Tag verschiebe. Ich kam nicht hinterher, wenn andere mir Aufgaben setzten und von mir erwarteten, diese auch im nächsten Moment zu erledigen. Probleme, die ich in Deutschland zurück gelassen habe, waren plötzlich wieder da. Für mich war es die richtige Entscheidung, erst einmal ins Kloster zu gehen, um in meinem eigenen Tempo wieder zurück nach Deutschland zurück zu kehren.

Zudem kamen meine ständigen Magenschmerzen und dass mir damit auch niemand helfen konnte. Ich wurde immer kränker, konnte immer weniger essen. Die Schmerzen waren teilweise so stark, dass ich den ganzen Tag im Bett lag. Ich hatte Angst vorm Essen, weil es mir solche Schmerzen bereitet hat, dass ich es irgendwann zu einem großen Teil eingestellt habe. Nach einer Woche und mit einem Stuhlgang wie Wasser wurde ich dann als Notfall bei einer Heilpraktikerin untersucht und diese konnte mir zumindest schon ein Stück weit helfen. Aber der Weg zur Besserung sollte ziemlich lang werden. Wochenlang habe ich mich anfangs komplett strickt an einen strengen Ernährungsplan, der eigentlich nur aus Haferbrei und gedünsteten Gemüse bestand, gehalten. Dreimal täglich musste ich Medikamente nehmen, um das Essen wenigstens im Ansatz drin zu behalten. Alle zwei Wochen habe ich über einen Tropf künstlich die Nährstoffe erhalten, die mir fehlten. Ich hab an Gewicht verloren und wurde von anderen ständig darauf aufmerksam gemacht. Als ob ich nicht selbst sehen könnte, wie ich aussehe. Also habe ich angefangen, mich hinter ausgebeulten Hosen und weiten Oberteilen zu verstecken, wenn ich übers Wochenende Zuhause war oder mich Freunde besuchten. Mittlerweile habe ich fast mein ursprüngliches Gewicht erreicht, aber irgendwie ist mein Körpergefühl noch nicht wieder ganz zurückgekehrt. Ich hab in der Öffentlichkeit schon noch Angst, dass man mir ansieht, dass ich krank bin. Ich will nicht ständig von anderen hören müssen, ich müsste mehr essen. Denn das will ich ja, aber es geht nicht so einfach. Nur besitzen viele diese Sensibilität nicht und denken sich nichts Böses bei ihren Kommentaren. Dass es mich verletzt, so etwas zu hören, können sie sich nicht vorstellen. Sie meinen es ja nur gut.

Irgendwann kam dann die Akzeptanz und ich habe meinen Optimismus wiedergefunden. Im gleichen Atemzug habe ich den Text „moving on“ verfasst, der mir in so manch schwierigen Momenten gut weitergeholfen hat. Ich habe verstanden, dass es okay ist, mich so traurig und orientierungslos zu fühlen. Auch die negativen Emotionen wollten gefühlt werden, also habe ich sie zugelassen. Genauso wichtig ist es dann jedoch auch, irgendwann die Kurve zu kriegen und weiter zu machen. Es ist keine Schwäche, zusammen zu brechen. Im Gegenteil. Danach wieder aufzustehen und neuen Mut zu fassen, ist wahrhaft die größte Stärke, die in uns verborgen liegt. Es bringt mir nichts, in der Vergangenheit weiter zu leben. Dadurch entsteht ein Stillstand, es kommt zu keiner weiteren Entwicklung und eben auch zu keiner Besserung. Stattdessen wollte ich offen für neue Chancen und glücklichen Zufälle sein, die sich ergeben können, wenn man es am wenigsten erwartet.

Meine Freundin würde jetzt sagen: „Erinnerung sind eine Bereicherung. Sie zeigen uns, wie schön das Leben sein kann, wenn es das nicht ist. Helfen uns im stetigen Wandel der Zeit nicht verloren zu gehen, indem sie uns zeigen, wer wir waren, wer wir sein wollen und werden können. Doch ich merke auch, dass Erinnerungen, die ich zu stark festgehalten habe, mich ausgebremst haben. Erst als ich mich von ihnen entfernt habe, konnte ich etwas Neues beginnen. Vieles davon braucht Zeit, Mut und Kraft. Ganz los wird man manche Dinge wohl nie, denn sie sind längst ein Teil von uns, den wir früher oder später akzeptieren müssen. Ja Zeit vergeht, sie nimmt und sie schenkt. Immer weiter…“

Wenn ich ehrlich bin, dann geht es mir nicht zu hundert Prozent wieder gut. Aber ich bin stolz auf meinen Fortschritt und mittlerweile überwiegen die Momente im Glück die schlechten Gedanken. Es kann nur besser werden und ich bin den Menschen, die mir auf meinem Weg zur Seite stehen so unendlich dankbar. Vor allem dem Bistum bin ich jetzt so dankbar, dass mir ein Stipendium ermöglicht wird. Denn so muss ich mir jetzt keine Sorgen darum machen, dass ich immer noch nicht wieder arbeiten und schon einmal Geld für die Finanzierung meines Studiums verdienen kann. So kann ich die viele freie Zeit dafür nutzen, wieder gesund zu werden. Danke, dass ihr mir diese Reise ermöglicht habt. Und vor allem danke, dass ich meinen Weg nie ganz alleine gehen musste.

Wenn wir das Glück haben, einen neuen Tag erleben zu dürfen, dann ist das mehr als nur genug.

Denn manchmal ist es einfach nur genau das, was man braucht: ein neuer Tag.