Wertvoll?

„Du willst als junge Frau nach Indien? Pass mal lieber auf. Da wirst du nicht so wertgeschätzt wie in Deutschland!“
Diese Sätze habe ich vor meiner Ausreise in unterschiedlichen Ausführungen oft zu hören bekommen. Dieses und noch viele weitere Klischees habe ich fast jedes Mal vorgeführt bekommen, wenn ich stolz erzählt habe, im Sommer nach Indien ausreisen zu wollen. Ständig und ohne Nachfrage haben die Leute mir Geschichten über Indien berichtet, die erschreckender Weise in den meisten Fällen nur die Schattenseiten des Landes präsentierten. Und noch etwas hatten sie gemeinsam. Keiner, der solche Behauptungen äußerte, war jemals persönlich in Indien.
Auch während meines Freiwilligen Dienstes haben mich diese Aussagen immer wieder beschäftigt. Ständig habe ich mich gefragt, wie viel Wahrheit in all den Klischees in Wirklichkeit steckt. Zu meinem Glück wurde ich in den Vorbereitungsseminaren für genau solche Vorurteile sensibilisiert. Schon längst hatte ich diverse Vorträge zu kulturbewusster Kommunikation gehört und auch eine Einheit zu Vorurteilen durchgearbeitet. Für mich war also klar, dass Indien viel mehr als diese Vorurteile zu bieten hat, dass diese Geschichten nur einen kleinen Ausschnitt des Landes zeigen.
Indien wird immer wieder als ein armes Land mit vielen Problemen dargestellt. In den Medien wird meistens von Hungernöten, Umweltkatastrophen, den Kriegen an den Grenzen oder die Vergewaltigungen berichtet. Es werden Bilder von Kinderarbeit, Zwangsheirat, einem Kastensystem und Umweltverschmutzung gezeigt. Und ja, diese Dinge stimmen in den meisten Fällen. Aber sie werden falsch präsentiert. Negative Nachrichten werden aus ihren Kontext gerissen und ohne weitere Erklärung an Personen weitergegeben, die gar nicht anders können, als sich ein schlechtes Bild über das Land zu machen. Im Übrigen: Fällt sonst noch irgendeinem auf, dass es selten etwas Positives aus solchen Ländern in die Nachrichten schafft? Dass nie von den kleinen Entwicklungen in die richtige Richtung berichtet wird? Und es sind auch meistens immer wieder dieselben Themen, die veröffentlicht werden.
Deswegen war es mir in dem Jahr so wichtig, die Geschichten hinter all den Vorurteilen kennen zu lernen. Ich wollte mir einen persönlichen Eindruck verschaffen, eigene Erfahrungen sammeln, Fehlurteile aufdecken und meine Ansichten teilen. Dazu muss ich sagen, dass selbst meine Erfahrungen nur auf wenige Orte Indiens zutreffen, dass ich nur mit einer beschränkten Anzahl an Personen ins Gespräch gekommen bin und auch nicht alles über die Kultur gelernt oder sogar verstanden habe. Die Zeit war zu kurz, um dieses riesige Land bis ins kleinste Detail zu ergründen. Deswegen ist auch meine Sicht beschränkt und kann somit nicht auf jede Situation oder jeden Teil des Landes angewendet werden. Auch kann ich nie garantieren, ob man mir die Wahrheit erzählt hat.
Ich habe also Informationen und Erfahrungen gesammelt, in der Hoffnung mit einem ganz anderen eigenen Bild von Indien zurück zu kommen und dieses auch mit den Leuten aus meiner Heimat zu teilen. Dabei ist mir auch aufgefallen, dass die Vorurteile auch in die andere Richtung funktionieren und habe Inder über die deutsche Kultur, wie ich sie erlebe, informiert.
Zurück in Deutschland kamen dann die nächsten Vorurteile. Schließlich müsste ich bei den ganzen Hungernöten und dem scharfen Essen total abgemagert zurückkommen, der neue Yogi auf der Yogamatte sein, den indischen Kleidungsstil übernehmen und so weiter. Ach ja, an Lord Shiva und seine ganze Meute sollte ich selbstverständlich nun auch glauben. Ja, es ist also ein endloser Kreis. Wir werden wohl nie damit aufhören, gewisse Vorurteile zu haben. Ich selbst bin nicht frei davon. Aber ich denke, solange ich nicht aufhöre, Dinge zu hinterfragen und nie das Interesse daran verliere, Fehlurteile aufdecken zu wollen oder eines Besseren belehrt zu werden, kann diesem Drang nach dem Schubladendenken entgegengewirkt werden. Und um herauszufinden, wie eine andere Kultur genau tickt und was wirklich dahinter steckt, sind Freiwillige und Weltentdecker wichtig, sind Kommunikation und Austausch unverzichtbar. Ist eine Reise ins Neuland und nicht unbedingt ein Buch oder eine Dokumentation nötig. Nur so kann das Bild der „anderen“ Welt geändert werden.
Aber ich habe nicht nur etwas über kulturelle Unterschiede erfahren, sondern auch neue Seiten an mir entdeckt, zwischenmenschliche Erfahrungen gesammelt und Dankbarkeit erfahren.
Ich habe nicht nur Dankbarkeit erlebt, die an mich gerichtet wurde, sondern auch selbst für viele Dinge -vor allem für mich sonst immer selbstverständliche Kleinigkeiten- mehr Dankbarkeit empfinden können. Wertschätzung ist etwas, was in unserer Gesellschaft manchmal leider untergeht. Ich wusste schon immer, was für ein Privileg es für mich ist, in Deutschland leben zu können und so viele Möglichkeiten zu haben mich unabhängig auszuleben. Und doch bin ich noch reicher geworden, indem ich selbst erfahren habe, wie das Leben mit wenigen dieser Chancen aussieht. Vor allem als ich erkannt habe, dass das Leben mit weniger Luxusgütern möglich ist. Beispielsweise ist es kein Problem auch auf dem Boden zu arbeiten, zu kochen, zu essen und zu schlafen. Und wie kostbar sauberes Wasser und Nahrung wirklich sind, verstand ich erst, als es nicht mehr in Massen verfügbar war.
Durch die Begegnung mit den Kindern in der Schule habe ich gelernt: Ich muss nichts tun und nichts sein, um wertvoll zu sein! Zugegeben meine Aufgaben waren oft einfach und die Welt habe ich für Außenstehende dadurch auch nicht gerettet. Man hätte mich ganz einfach ersetzen können und so wird es in Zukunft wahrscheinlich auch passieren, wenn neue Freiwillige auf die Stelle kommen. Aber ich habe trotz meiner bescheidenen Aufgaben noch nie zuvor so viel bedingungslose Liebe und Dankbarkeit bekommen. Einmal habe ich ein Springseil für die Mädchen aus der Grundschule gekauft. Sie waren so dankbar und das obwohl ich nur ein Seil für nicht einmal einen Euro für sie gekauft habe. Aber genau das ist der Grund, warum ich mich in ihrer Gegenwart so wohl fühlte. Jede kleine Geste, jedes nette Wort, jede Sekunde der Aufmerksamkeit, sie freuten sich über alles. Bei den Kindern hatte ich keinerlei Erwartungen zu erfüllen, denn meine bloße Anwesenheit war oft schon genug. Und in diesen Momenten wurde mir klar, dass ich weitaus wertvoller bin, als es mir selbst in Deutschland immer erschien. Nicht etwa weil ich besondere Fähigkeiten, Aufgaben oder Ähnliches hatte. Nein, ich war für diese Kinder wertvoll einzig und allein durch mein Sein. (Das werde ich in Deutschland, gerade an der Uni, an der alles nach Leistung und Fähigkeiten ermessen wird, vermissen.)
Und dieses Gefühl wurde immer mehr gesteigert. Zum Beispiel als ich angefangen habe, den traditionellen tamilischen Tanz zu lernen. Die Kinder und auch die Lehrerin waren bei jeder Tanzstunde sehr aufgeregt und stolz, mich in ihrer Mitte zu haben. Und das obwohl ich mich alles andere als geschickt anstellte. Die Kinder erfreuten sich aber gerade an meiner Unfähigkeit und lachten gerne, wenn ich meine Hände beispielsweise nicht in die gewollte Position bringen konnte. Wenn es dann endlich klappte, freuten sie sich genauso und alle klatschten Beifall. Egal wie mich also anstellte, ich war immer wertvoll. Darüber hinaus habe ich noch etwas ganz anderes Wichtiges festgestellt. Ich musste nicht immer nur den Kindern etwas beibringen, damit sie glücklich wurden. Sie erfüllte es nämlich mit genauso viel Glück, wenn ich auch etwas von ihnen lernen konnte.
Egal ob „geben“ oder „nehmen“ am Ende war es immer ein Gewinn für alle. Dieses ganze Jahr war also ein Gewinn.

Unser Rückflug

Am Freitag ging bei uns die Mail ein, dass ab Montag, den 23. März keine internationalen Flüge aus Indien mehr stattfinden sollen. Da wir ab Mumbai um 2.30 Uhr unseren Flug gebucht hatten, fiel unser auch weg. Zur Sicherheit riefen wir am Samstag noch einmal bei der Fluggesellschaft an und auch diese bestätigte den Ausfall unseres Fluges. Zudem sollte ab dem Sonntag eine freiwillige Ausgangssperre einsetzen, die anscheinend nicht ganz so freiwillig war, da jeder sich strickt daran hielt. Also stellten wir uns darauf ein, auf ungewisse Zeit in Indien bleiben zu müssen und auf die Rückholaktion aus Deutschland zu warten. Wir hätten ansonsten noch die Möglichkeit, am Samstag zu fliegen, gehabt. Allerdings wäre bei diesen Flügen auch nicht gewiss gewesen, ob sie wirklich stattfinden und wir wollten lieber auf unserer Stelle bleiben, als auf irgendeinem Flughafen festzustecken.

Also planten wir die restlichen Tage gemütlich zu Hause ein. Die ganze Zeit war ich mir allerdings nicht sicher, ob und wie weit ich meinen Koffer wieder auspacken sollte. Doch das Wochenende wollte ich damit noch größtenteils warten und hab nur ganz wenig wieder ausgepackt.

Sonntagmorgen hat Lukas dann plötzlich einen Anruf der Fluggesellschaft bekommen. Diese berichtete von einer Sondergenehmigung unseres Fluges und wollten wissen, ob wir diesen noch antreten wollen. Uns blieb kaum Zeit zum Nachdenken. In einer halben Stunde mussten unsere Koffer gepackt werden (zu dem Zeitpunkt war ich besonders froh, ihn noch nicht wieder ausgepackt zu haben). Ich habe einfach blindlinks alles geschnappt, was ich in der kurzen Zeit noch zu packen bekommen habe und habe es in meine Tasche und Koffer reingestopft. Dann hab ich versucht den Müll in Müllsäcken zu sammeln und hab für den Flughafen Klopapier eingepackt. Alle waren total im Stress, denn eigentlich war ja auch eine Ausgangssperre angesagt und die Botschaft hat extra noch einmal empfohlen, Zuhause zu bleiben. Und auch wenn der Flug von Mumbai anscheinend stattfinden sollte, wussten wir nicht, ob wir einen Inlandsflug nach Mumbai bekommen können. Die Fathers waren -mehr als wir selbst- um unsere Sicherheit besorgt und haben uns die Koffer uns alles ins Auto getragen. Dann gab es eine schnelle Verabschiedung und mit dem Auto wurden wir zum Flughafen gebracht.

Deswegen haben auch die Fathers am Flughafen gewartet, bis wir durch die Sicherheitskontrolle durch waren. Der Flughafen war wie leer gefegt, denn der Flug, mit dem wir starten sollten, war der einzige, der noch geflogen ist. Wir konnten so durch, obwohl unsere Koffer Übergewicht hatten… Im Flugzeug saß auch kaum jemand und wir haben uns total unwohl gefühlt, da wir anders als alle anderen Passagiere keinen Mundschutz hatten.

In Mumbai angekommen mussten wir zehn Stunden warten und die ganze Zeit wussten wir nicht, ob der Flug nicht doch noch abgesagt wird. Es war schon ein wenig gruselig, denn es war auch wieder kaum etwas los und die Mehrheit der Reisenden war nicht indisch. Fast alle Geschäfte waren geschlossen, nur ein paar Restaurants und die Apotheke waren offen. Zum Glück haben wir dort auch noch eine Schutzmaske bekommen.

Zwischendurch haben wir uns noch mit anderen Reisenden unterhalten und ich muss sagen, wir hatten unglaublich Glück im Unglück. Viele mussten noch von Amsterdam weiter nach Amerika oder Kanada fliegen. Ein Mann aus Malta war von Kopf bis Fuß tätowiert und hatte in der letzten Woche unglaubliche Schwierigkeiten. Er wurde aus seinem Hotel geschmissen, konnte in den meisten Restaurants kein Essen mehr bekommen und musste zweieinhalb Stunden zum Flughafen laufen, weil keine Rikscha oder kein Taxi ihn mehr mitnehmen wollte. Viele haben davon erzählt, dass Inder ihnen ausgewichen seien und jetzt mit der Ausgangssperre alles noch schwieriger geworden sei. Die Stimmung unter allen Reisenden war durch die Angst vor Krankheiten und die Anschlussflüge zu verpassen angespannt. Kurz bevor wir in den Flieger einsteigen sollten, kam es zu einer Auseinandersetzung zwischen ein paar Passanten und dem Personal. Ein Mann hat sich darüber aufgeregt, dass es kaum gesundheitliche Kontrollen gab. Er meinte, dass es völlig wahnsinnig sei, denn wenn einer krank im Flieger sitzt, wären alle in Gefahr. Seine Wut hat er dann gleich an dem Mann am Schalter ausgelassen. Dieser versuchte ihn gerade zu beruhigen, als der nächste sich schon aufgeregt hat. Diesmal war die zeitliche Verzögerung der Grund für die Aufregung. Das Argument, dass sich durch die ganzen Ausbrüche der Einstieg nur noch mehr verspätet, hat dann auch schnell für Beruhigung gesorgt. Doch die ganze Aufregung hat alle aufgewühlt. Als ich dann noch die ganzen Slums beim Abflug aus dem Fenster gesehen habe, war es auch vorbei bei mir. Mein Kopfkino setzte wieder ein und ich war kurz vor der Tränen, weil ich so Angst davor habe, dass der Virus nach Indien kommt. (Da bin ich einfach wieder zu sensibel für diese Welt…) Ich hab mir dann meine Beruhigungspillen (zum Glück der anderen) eingeworfen und hab die neun Stunden Flug fast vollständig durchgeschlafen.

In Amsterdam gab es dann den ersten Temperaturtest nach unserer Ankunft. Ständig wurden Ansagen gemacht, dass Sicherheitsabstände eingehalten werden sollen und es war wieder mehr los am Flughafen. Nach zwei Stunden Umsteigezeit saßen wir dann im Flieger nach Düsseldorf. Dort wurde ich dann von meiner Schwester und meinem Vater abgeholt.

Ich war heilfroh, dass ich am Flughafen noch ein Brötchen bekommen konnte, denn der Service im Flieger wurde weitestgehend eingestellt und ich war deswegen halb verhungert. Am Auto wurde ich erst einmal komplett mit Desinfektionsmittel eingenebelt und meine Schwester hat auch noch einmal das Auto von innen gereinigt. Im Anschluss ging es endlich nach Hause. Die anderen Freiwilligen, die ursprünglich mit uns zusammen fliegen wollten, habenden Flug nicht angetreten und sitzen jetzt noch in Indien. Dadurch, dass alles an öffentlichen Verkehr und weiteres bis zum 31. März eingestellt wurde, kommen sie auch nur schwer zu den Flughäfen… Ich bin gespannt, wie sich das noch entwickeln soll und bin froh, dass wir noch den letzten Flug genommen haben. Auch wenn wir in dem Moment kaum über unser Handeln nachgedacht haben und aus reinem Reflex gehandelt haben, war es die richtige Entscheidung, die wir für uns getroffen haben.

Tiefpunkt

Ich hätte mit so vielem in diesem Jahr noch gerechnet. Doch dass ein Virus sich zu so einer Katastrophe entwickelt und nun der Grund ist, warum mein Freiwilligendienst hier in Indien beendet werden muss, hätte ich mir nicht erdenken können.

Am Montag haben uns die Jungs aus Nordindien angerufen und meinten plötzlich, dass sie einen Rückflug nach Deutschland gebucht hätten und am Donnerstag das Land verlassen würden. Zudem sprachen sie davon, dass es bei uns demnächst auch noch so weit kommen könnte. Wir drei haben die beiden zu dem Zeitpunkt für verrückt gehalten, haben ihre Entscheidung für viel zu übertrieben empfunden. Denn bei uns in Tamil Nadu sah die Welt noch völlig idyllisch aus. Die einzige Maßnahme war, dass die Kindergärten und Grundschulen geschlossen wurden. Ansonsten hatte der Virus hier für uns noch gar keinen Einfluss. Ganz im Gegenteil Indien sah zu dem Zeitpunkt noch so viel besser aus als Deutschland.  

Kaum eine Stunde später hat Regina – unsere Chefin – mich angerufen und uns dreien die Lage geschildert. Sie war sich zu dem Zeitpunkt noch nicht sicher, ob wir das Land verlassen müssen, meinte jedoch, wir sollten zur Sicherheit schon einmal unsere Sachen zusammen suchen und uns für eine Ausreise bereit machen.

Wir hatten kaum Zeit, diese Nachricht zu verdauen, da kam auch schon die Mail von weltwärts, in der beschlossen wurde, dass alle Freiwilligen so schnell wie möglich nach Deutschland kommen müssen.

Auch wenn es in den meisten Ländern, in denen wir uns derzeitig befinden noch besser aussieht als in Deutschland, kommen wir nicht an der Rückreise vorbei. Grund dafür ist die Angst, dass wir in unserem Land festsitzen könnten. Denn den Entwicklungen zufolge werden alle internationalen Flüge und wahrscheinlich auch die eisten nationalen Flüge eingestellt. Sollten wir also dann nicht mehr aus unserem Land rauskommen und hier der Virus genauso ausbrechen, haben wir ein Problem. Schließlich ist hier die gesundheitliche Versorgung nicht so gegeben, wie wir sie in Deutschland erfahren würden. Wenn dann auch noch unser Visum ablaufen würde, würden wir hier im Sommer immer noch sitzen, hätten wir noch weitere Schwierigkeiten.

Es gibt auch Freiwillige von unserer Organisation, die in ihren Ländern festsitzen und im Moment noch auf ein zufälliges Flugangebot oder auf einem von der Botschaft organisierten Flug warten. Bei uns in Indien haben sich auch schon die meisten Freiwilligen aus dem Staub gemacht. Leider lag ich den Anfang der Woche noch mit Fieber im Bett und bin bis gestern noch ziemlich am Husten und verschnupft gewesen (Klimaanlage war schon wieder Schuld), sodass wir frühestens für Sonntag eine Ausreise planen konnten. Bis zum jetzigen Stand wurde unser Flug noch nicht gecancelt, doch immer mehr Flüge –selbst Inlandsflüge- werden gestrichen  und die Strecken werden zu richtigen Abenteuerreisen. Lukas‘ Familie zum Beispiel ist von Delhi über Dubai und Moskau nach England geflogen und von dort aus mit dem Zug nach Deutschland. Insgesamt haben sie vier Tage gebraucht, um ins Heimatland zurück zu kehren. Ich bete, dass wir uns diesen Stress sparen können. Wir prüfen auch mehrmals täglich, ob unser Flug noch geht. Witziger Weise fliegen wir mit drei Freiwilligen, die wir auf unserem Seminar in Kochi kennengelernt haben.

Für uns ist die Nachricht selbstverständlich ein großer Schock. Schließlich wurden wir innerhalb weniger Stunden aus unserem Alltag gerissen. Das Leben hier in Indien war so kostbar für mich und wurde mir mit einem Schlag genommen. Ich konnte mich noch nicht einmal von meinen kleinen Babys in der Schule verabschieden, da diese ja geschlossen wurden. Wir hatten gerade unsere Urlaubsplanung begonnen und so viele schöne Reiseziele rausgesucht und wollten uns mit ein paar Leuten in Goa treffen. Ich wollte noch so vieles ausprobieren. Ich habe weder für die Menschen hier ein Abschiedsgeschenk, noch für alle Leute in Deutschland ein Mitbringsel (was natürlich eher zweitrangig ist, mich trotzdem beschäftigt). So oft habe ich gesagt: „Ach, das kann ich später machen.“ Jetzt bleibt für vieles keine Zeit mehr. Die letzten Tage hier in Indien wollten wir eigentlich genießen, doch ich schwimme praktisch im Stress. Wir springen von einer Abschiedsparty zur nächsten, versuchen krampfhaft unsere To-Do-Listen abzuarbeiten und müssen gleichzeitig unser halbes Jahr in unsere Koffer packen. Seit Montag habe ich nicht mehr ausgiebig geschlafen und mir hängen die Augenringe schon bis auf den Boden.

Ich bin dankbar für die vielen Erlebnisse, die wir in so kurzer Zeit machen durften, da hatten wir unglaublich Glück. Ich freue mich auf meine Lieben in Deutschland und kann verstehen, dass ihr mich lieber daheim hättet. Doch im Moment kann ich das noch nicht so wirklich zeigen, denn die Trauer um das, was mir genommen wird, ist viel zu aktuell und überlagert manchmal noch die positiven Dinge. Ich hoffe, ihr könnt das verstehen.

Lange habe ich überlegt, wann ich diesen Beitrag poste und wann ich den Menschen von meiner Rückkehr erzähle. Denn ich möchte nicht, dass mir jetzt jeder schreibt. Auch wenn es nur lieb gemeint ist, nimmt mir das die Zeit hier, wenn ich euch darauf antworten muss. Es geht mir gut, ihr müsst euch keine Sorgen machen, ich hab euch alles, was es zu sagen gibt, gesagt und für den Moment muss das reichen.

Ich weiß auch noch nicht, was ich mit all den Posts, die ich schon angefangen habe, aber noch nicht veröffentlicht habe, mache. Wahrscheinlich werde ich sie trotzdem posten, auch wenn es überhaupt nicht in die Reihenfolge passt. Aber mal gucken.

Das war’s dann jetzt auch. Ich muss packen und danach zu meiner letzten Abschiedsparty. Gestern kam in den Nachrichten auch die Nachricht, man solle nur noch für wichtige Angelegenheiten das Haus verlassen, ich warte eigentlich nur noch auf die Ausgangssperre im Laufe des Tages.

P.S. Ich habe noch nicht einmal Zeit, den Text Korrektur zu lesen…obwohl ich das generell selten mache, aber dann eher aus anderen Gründen (Lachsmiley)