Lebensfluss

Wer ich bin?

Ich bin das Ergebnis vergangener Zeiten. Bin das dritte Produkt einer Liebe, die zu dem Zeitpunkt nicht mehr ganz so jung und frisch war. Dafür ich. Überschüttet mit Liebe und in Sicherheit darf ich heranwachsen. Damals sind die einzigen Probleme noch eine volle Hose und die Zankereien mit meinen Geschwistern.

Doch mit zunehmendem Alter werden auch die Probleme größer. So kommt es, dass ich früher als andere erwachsen werden muss. Als ich ungefähr 15 bin, erkrankt meine Tante, die über uns wohnt und mich praktisch mit groß gezogen hat, ein weiteres Mal an Krebs. Dieses Mal unheilbar und wir wollen ihr ihren letzten Wunsch, Zuhause zu sterben, erfüllen. Das heißt, ich werde nicht gefragt, aber es wird so entschieden.

Wer ich bin?

Ich bin jetzt eine viel zu junge Erwachsene, muss Aufgaben übernehmen, denen ich gar nicht gewachsen bin, weil ich mich nicht traue, „Nein“ zu sagen. Meine älteren Geschwister sind schon ausgezogen und meine Eltern müssen oft arbeiten. Deswegen muss ich jeden Vormittag nach der Schule nicht nur mich mit Essen versorgen, sondern auch meine Tante. Am Anfang war der Krebs noch kein so schlimmer Mitbewohner. Doch mit den Monaten nagt er an der Kraft meiner Tante. Ein Hirntumor wird diagnostiziert und muss entfernt werden. Bei der Operation kommt es zu Komplikationen und meine Tante erleidet einen Schlaganfall. Sie fällt ins Koma. Leider ist sie nicht mit meinem Onkel verheiratet und es gibt keine Patientenverfügung, sodass die Ärzte sie wiederholen. Immer und immer wieder. Sagen sie. Aber sie haben nicht meine Tante wiederbelebt. Was übrig geblieben ist, lässt sich nicht mehr mit dem Menschen vergleichen, der mich großgezogen hat. Da war nur noch die von der Krankheit ausgenommene Hülle. Gefüllt mit Schmerz und Depressionen. Keine Spur mehr von der Lebensfreude.

Und da sind diese Träume, wegen denen ich nachts wach liege, aus Angst, mich in ihnen zu verlieren. Aus Angst, dass sie wahr werden.

Wer ich bin?

Ich bin ein Kind, das in der Rolle eines Erwachsenen steckt, obwohl es damit nichts anfangen kann. Der Zustand meiner Tante wird nun nicht monatlich schlechter, sondern nimmt praktisch zeitdeckend ab. Sie ist halbseitig gelähmt und meine Aufgaben vermehren sich. Zum Beispiel muss ich jetzt nicht nur für sie das Essen fertig machen, sondern bleibe beim Essen bei ihr, falls das mit dem Essen nicht so gut funktioniert. Unter anderem hat sie Lungenkrebs und ich habe jedes Mal zu große Angst davor, dass sie ersticken könnte, weil sie sich ständig verschluckt. Es gibt jeden Tag Eintopf oder Suppe, denn was anderes kann sie nicht mehr essen. Ich hasse Eintopf. Zu sehr erinnert mich der Geruch an diese Momente.

Wenn ich auf sie aufpasse oder ihre Fenster putze, erzählt sie vor sich hin. Manchmal wirft sie uns vor, warum wir sie nicht haben gehen lassen. Ich frage mich ständig, wie viel Wahrheit in ihren Worten steckt. Sie nennt mich jetzt immer öfter „Janina“. Sie benutzt den Namen meiner Schwester, als hätte sie vergessen, wer ich bin.

Ich glaube am meisten habe ich meine Überforderung gespürt, als ich früh morgens vom Pflegedienst aus dem Bett geholt wurde. Meine Mutter war zu dem Zeitpunkt arbeiten und die Pflegerin hat meine Tante in der Dusche fallen gelassen und konnte ihr nicht mehr aufhelfen. Aber ich war auch zu schwach und zu klein und wusste die speziellen Griffe nicht, mit denen man sie leichter hochheben könnte. So lag meine Tante immer noch in der Dusche und hat so bitterlich geweint. Wiederholte immer wieder, wie sehr sie dieses Leben hasste.

Und da sind diese Träume, wegen denen ich nachts wach liege, aus Angst, mich in ihnen zu verlieren. Aus Angst, dass sie wahr werden.

Wer ich bin?

Ich bin ein Kind Gottes. Ich habe einen Weg gefunden, die Dinge, die ich erlebe, zu verarbeiten. Mein Onkel geht jetzt regelmäßig abends zur Kirche, um für meine Tante zu beten. Und auch ich will mich darin versuchen. Ich finde Antworten auf die Fragen, die mich die letzten Monate beschäftigten und ich finde eine Kraftquelle. Ich beschäftige mich immer mehr mit dem Thema Gott, verliere mich darin, finde eine Zuflucht und kann in den Momenten alles um mich herum vergessen.

Es kommt zu einem weiteren großen Schritt in meinem Leben. Ich wechsle zum Gymnasium. Aber der Wechsel verläuft nicht einfach. Ich kann gefühlt nichts, habe Unterricht, in dem es mir vorkommt, als spreche der Lehrer eine andere Sprache, weil die Bildungslücke einfach so groß ist.  Zudem weine ich viel und manchmal ganz unerwartet im Unterricht und fühle mich wie ein Freak. Zum Glück denken die anderen nicht genauso von mir und helfen mir. Geben mir ihre Mappen mit und ich bin eigentlich nur noch am Lernen, was ganz gut ist, denn so muss ich mich bei meinen Freunden nicht dafür rechtfertigen, warum ich Zuhause bleibe.

Wer ich bin?

Ich bin vom schlechten Gewissen geplagt. Mittlerweile bin ich so weit, dass ich mir den Tod meiner Tante wünsche. Ich verbringe viel Zeit alleine Zuhause, weil sie jetzt in einem Hospiz lebt und alle nach der Arbeit erst dahin fahren anstatt nach Hause. Ich komme nicht mit, weil sie mich sowieso nicht mehr erkennt. Außerdem habe ich mich von meiner Tante schon vor einiger Zeit verabschiedet. Dieses Wesen, was aus ihr geworden ist, möchte ich nicht in Erinnerung behalten. Ich habe Angst davor, dass dieses Bild all die schönen Bilder aus meiner Erinnerung verdrängt. Und bin fast genauso erleichtert wie auch traurig, als sie endlich stirbt. Nicht daheim, wie sie es sich gewünscht hatte.

Aber mit ihrem Tod kann ich nun wieder beginnen zu heilen. Mittlerweile klappt es in der Schule auch ganz gut und ich habe wieder Zeit und Kraft glücklich zu sein. Für mich fängt ein neues Kapitel an. Aber ich sehe, wie tief der Schmerz in meinem Onkel sitzt. Er ist oft zum Mittagessen bei uns eingeplant, doch er kommt nur selten. Er will sich aber auch nicht helfen lassen.

An einem Abend bin ich das erste Mal wieder mit meinen Freundinnen feiern. Es ist der erste Moment, in dem ich mich genauso alt wie meine Freunde fühle, in dem ich mir normal vorkomme. Doch so schön wie der Abend ist, so kurz ist er auch. Früh morgens klingelt es bei uns an der Haustür. Es ist der Arbeitskollege meines Onkels, er mache sich Sorgen, mein Onkel sei nicht zur Arbeit gekommen und habe sich nicht gemeldet. Meine Mutter schreit nach mir. Ich laufe hoch, um nachzuschauen und erst sehe ich ihn gar nicht, zu versteckt liegt er unter dem Regal in seinem Arbeitszimmer. Ich kann mein Blut rauschen hören.

Das Leben ist eine Achterbahnfahrt. Wenn du meinst ganz oben zu sein, stürzt du in Sekundenschnelle wieder entgegen dem Abgrund. Ein Wechselbad der Gefühle.

Es liegen zu viele Sachen dazwischen, um an ihn ranzukommen. Also muss ich durch die Lücken klettern und versuchen ihn frei zu graben. Ich weiß nicht mehr wie, aber letztendlich schaffen wir es, das Regal hochzustemmen. Ich drehe ihn um und das Herz rutscht mir in die Hose. Er ist ganz steif. Trotzdem prüfe ich seinen Puls. Nichts. Wir halten einen Spiegel vor seinen Mund. Nichts. Aber ich glaube nicht daran, dass er tot ist. Das kann nicht sein. Das darf nicht sein. Nicht noch einmal. Ich rufe den Notarzt, doch er kann auch nichts mehr tun.

Wer ich bin?

Ich bin die Angst.

Ich habe Angst.

Immerzu Angst.

Ich sitze im Unterricht oder im Theater und bekomme Panik, weil ich mir vorstelle, nach Hause zu kommen und alle tot vorzufinden. Ein tiefsitzendes Angstgefühl, das mich von innen zerfrisst, das mir die Luft zum Atmen nimmt. Ich bin völlig aufgelöst, wenn mich jemand abholen soll und nicht auftaucht, weil ich daran denke, er könnte tot sein. Einmal werde ich nach einer Aufführung im Theater nicht von meiner Mutter wie ausgemacht abgeholt und in mir wächst die Panik. Ich habe das Gefühl, der Lehrer kann mir meine Verzweiflung an den Augen ablesen. Jedenfalls fragt er mich noch Tage später, ob bei mir alles in Ordnung sei. Ich verpasse die Chance, die Wahrheit zu sagen, zuzugeben, dass nicht alles in Ordnung ist.

Und da sind diese Träume, wegen denen ich nachts wach liege, aus Angst, mich in ihnen zu verlieren. Aus Angst, dass sie wahr werden.

Doch Gott ist mir geblieben und ich finde meine Zuflucht. Und auch dieses Mal schaffe ich es, mich so gut es geht zu fangen.

Wer ich bin?

Ich bin übermütig. Obwohl es mir gut geht, muss ich mich beweisen, will das Leben jetzt richtig spüren, will ein normaler Teenager sein. Das heißt, ich kann es nur abends, tagsüber muss ich oft Mamas Rolle einnehmen. Und da ist dieser Junge, der mir das Gefühl gibt, normal zu sein. Und er scheint es auch zu sein. Aber was wir beide verheimlichen ist, dass wir es nicht sind und so treffen wir aufeinander, jeder sein unausgesprochenes Problem in sich gefressen und tun auf normal, weil wir denken, so das Leben spüren zu können. Naja …bis es nicht mehr geht.

Wer ich bin?

Ich fühle mich allein. Mein Freund, ist nicht mehr mein Freund, hat übers Handy Schluss gemacht, hat mir das Gefühl genommen, normal zu sein, hat versucht sich umzubringen und ist jetzt in einer Klinik. Ich brauche verdammt lange, ihn loszuwerden, weil er mit meinem Gewissen spielt… Wieso habe ich nichts bemerkt, wieso habe ich nichts dagegen getan? Ist das nicht immer noch meine größte Angst? Einen Menschen, den ich liebe, zu verlieren? Nicht der eigene Tod, sondern der eines anderen? Und auf einmal sind meine erwünschten Teenager-Probleme weit mehr als das. Das wollte ich nicht, ich wollte normal sein, eine normale Beziehung, ein normales Leben.

Und da sind diese Träume, wegen denen ich nachts wach liege, aus Angst, mich in ihnen zu verlieren. Aus Angst, dass sie wahr werden.

Aber da sind meine Freunde, die mich bitten, zurück ins Leben zu kommen. Und mit Mühe gelingt es mir auch. Ich bin nicht allein. Und finde zurück ins Leben.

Wer ich bin?

Ich bin verliebt. Ich finde der englische Ausdruck „to fall in love with someone“ ist ganz passend, um zu beschreiben, wie meine Gefühle für ihn entstanden sind. Wenn du fällst, dann fliegst du in die Tiefe. Du startest also irgendwo weiter oben und binnen Sekunden bist du ganz tief. Mein Start war unsere Freundschaft. Aus Angst vor dem Fall habe ich mir eingeredet, nicht mehr für ihn zu empfinden. Nur um zu merken, dass ich schon längst am Fallen war. „I fell in love with you.“ Plötzlich war es ganz einfach, mich immer weiter fallen zu lassen, mit dem Glauben daran, mich von ihm auffangen zu lassen. Ich hab aufgehört mich und ihn weiter zu belügen und kann behaupten, damit die richtige Entscheidung getroffen zu haben. Ich habe wieder gelernt zu lieben.

Wer ich bin?

Ich bin ich. Ich habe meine Vergangenheit als einen Teil von mir akzeptiert, habe aus meinen Fehlern gelernt und lerne noch weiter aus ihnen. Ich bin bereit für die Zukunft und mit mir selbst die meiste Zeit im Reinen. Ich kann dem Jungen verzeihen. Aber bei meinen Eltern tue ich mich manchmal noch etwas schwer. Irgendwie werfe ich ihnen ständig vor, mir zu viel zuzumuten, von mir zu viel zu verlangen. Aber ich weiß nicht, ob es letztendlich nicht doch ich bin, die diese Erwartungen hat und so sage ich nichts. Und ich bin sauer, dass ich mit ansehen musste, wie meine Tante starb, obwohl ich noch nicht bereit dafür war. Ich war noch nicht bereit dafür, meinen Onkel zu verlieren. Ich war alt genug, um es zu verstehen, aber zu jung, um es zu verarbeiten. Ich  bin sauer, weil mir jeder geglaubt hat, dass es mir gut gehe, obwohl es in mir ganz anders aussah. Und dass ich mich nicht getraut habe, die Wahrheit zu sagen, weil ich zu sehr versucht habe, ein gutes Mädchen zu sein, auf das man stolz sein kann, diesen Stolz aber nie deutlich gespürt habe. Vor allem bin ich sauer, weil nach den ganzen Sachen nicht nur ich, sondern auch ihr euch verändert habt und nicht nur zum Guten und mir nicht zugehört habt, als ich versucht habe euch zu erklären inwiefern mir diese Veränderungen aufgefallen sind. Ich bin enttäuscht von mir selbst, weil ich so schlecht darin bin, Gefühle zu zeigen und mir ständig vornehme, daran zu arbeiten, letztendlich sich aber doch nichts ändert.

Empfinde ich wirklich Wut? Oder vielleicht doch eher Angst? Das ist schwer zu sagen.

An manchen Tagen brauche ich einfach noch ein bisschen Zeit, bis die Wunden heilen und ich euch und mir verzeihen kann. Zu tief sitzt mancher Schmerz. In diesen Momenten verzeiht auch mir.

Ich habe mir das Wort „faith“ tätowieren lassen. Für meine Tante. Für meinen Onkel. Für Gott. Für mich. Damit es mich immer daran erinnert, dass dieser Teil auch zu meinem Leben gehört. Es macht mir Mut, auch aus den nächsten Löchern steigen zu können, wenn ich mal wieder in die Tiefe stürzen sollte.

Wer ich bin?

Ich weiß es nicht. Jeden Tag verbringe ich damit, mich selbst zu finden, doch weiß nicht, wonach ich eigentlich suchen soll.

Ich versuche immer ehrlich, anderen gegenüber tolerant, hilfsbereit und freundlich zu sein. Mal gelingt es mir gut, ein anderes Mal weniger.

Manchmal rede ich ununterbrochen über die unwichtigsten Dinge, manchmal auch gar nicht.

Ich bin voller Gefühle und reagiere oft sehr emotional. Fange ständig an zu weinen, lache dafür aber umso mehr.

Ich bin hungrig nach Liebe und bin durstig nach Zuneigung und anderen Dingen, die ein Mensch so begehren kann.

Ich kann verrückt sein und die peinlichsten Aktionen starten. Aber es gibt auch Tage, an denen ich total die Spaßbremse bin und lieber im Bett bleibe.

Ich bin mal laut und mal leise, mal fröhlich und mal traurig, mal wach und mal müde, mal mag ich mein Leben und manchmal auch weniger.

Aber am wichtigsten ist, dass ich „ich“ bin und mich nicht verstelle. Nur so kann ich auch glücklich sein. Denn vielleicht sehne ich mich gar nicht danach, zu wissen, wer ich bin, da ich jeden Tag anders bin, anders fühle, mich anders verhalte. Viel wichtiger ist es, dass ich meinen Werten treu bleibe und lerne damit zu leben.

Wer ich bin?

Ich bin meine Vergangenheit.

Ich bin meine Gegenwart.

Ich bin meine Zukunft.